Selfportraits from A to Z. Im Namen des Ichs.

"Ich ist ein anderer", schrieb der 1891 verstorbene Dichter Jean Nicolas Arthur Rimbaud. Geschult an reflektierter und gelebter Identität, die sich als Konstruktion offen gelegt hat und durch Differenzen markierend entfaltet, sagen wir heute nicht nur zum Theoriemainstream, sondern auch zur Lebensselbstverständlichkeit: "Ich ist viele" und "Viele andere sind ich". Identität wird hergestellt, gewonnen, geklittert aus forcierter und gesuchter Hybridität. In dieser Melange der sich überlagernden Existenzkonstruktionen als fortlaufendem Lebensprojekt gibt es im System der Ich-Bezeichnung eine offene Stelle, die die Wunden der Klitterung zwar nicht schließt, jedoch bezeichenderweise zusammenfügt. Diese Stelle ist der Name. "Ich möchte betonen, daß der Gebrauch der Sprache ermöglicht wird, indem man zuerst beim Namen genannt wurde...Dieses Ich, das durch die Häufung und die Konvergenz solcher Rufe hervorgebracht wird, kann sich nicht selbst aus der Geschichtlichkeit der Kette von Anrufungen herauslösen oder sich aufrichten und sich mit jener Kette konfrontieren, so als sei sie ein Objekt, das mir gegenübersteht, das ich nicht bin, sondern nur das, was andere aus mir gemacht haben.", schreibt Judith Butler in Körper von Gewicht.

Im Namen des Ichs also, so die Serie, mit denen Michael Endlicher sein Antlitz buchstäblich und namentlich zu durchleuchten beginnt. Im Namen des - da setzen die kulturell Geformten tradierenderweise gedanklich fort mit "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen." Fast unwillkürlich kommt diese Fortsetzung auf die Lippen, so die katholischen Kinderbeine in dieses gebetsmühlenartige Sprachmuster hineinsozialisiert wurden. Der Name des Vaters, der weitergegeben wird an den Sohn, heute der Nachname, früher oft auch der Vorname, ist die genealogische Fortschreibung des Projekts Familie. Der Stammbaum wird hergestellt als Vermächtnis im Garantieren des Weiterlebens eines Namens über die patrilineare Linie des Sohnes, der Söhne.

Für den französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan verköpert der Nom-du-Pere die Gesetze der Gesellschaft. Der lautliche Gleichklang assoziiert dem Nom-du-Pere das Non-du-Pere, das die ausgesprochenen, aber auch die stillschweigend verinnerlichten und gelebten Gesetze, Verbote, Regeln, Tabus repräsentiert. Das Nein-des-Vaters ist der erste Schritt in die symbolische Ordnung von Gesellschaft und Gesetzen. Nahe liegt hier der nächste Schritt in die Rebellion und die Überschreitung, die Lust am Aufbegehren und am Imaginären. Verlässt man die psychoanalysierbaren Symptome des assoziativen Nom-du-Pere, der sich an die Namen des Ichs von Michael Endlicher anlehnt, dann wird es Zeit, den Namen über seinen Augen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Es sind keine Nachnamen, keine Familiennamen, die sich über die Gesichter gelegt haben und dabei an schwarze Augenbalken, vertraut aus dem Sensationsjournalismus, erinnern. Auf Endlichers sechsundzwanzig Gesichter haben sich durchschauend, überschreibend Namen gelegt, die als Vornamen gelten können. Von A bis Z, ein Register. Betrachtend, rätselnd steht man vor dem Namen. Dabei bleibt es nicht. Man sieht durch die Namen, die ausgestanzt sind, durch. Und so sieht man auf das Dahinter, auf das, was sich hinter dem jeweiligen Bild befindet, auf die wechselnden Hintergründe. Die Bilder werden räumlich. Wir befinden uns vor dem Namen, hinter dem Namen und bewegen uns durch den Namen: räumlich wie semantisch. Dieser Zusammenfall von Raum und Semantik im Vor, Hinter und Durch gibt den Bildern ihre Betrachtungstiefe.

"What is given to you by your parents and mostly used by others?", so einer der unzähligen Witze, die in einem monatlich erscheinenden Magazin für Kinder aufgelistet sind. Die überraschend tiefsinnige Antwort lautet: "Your name." Der Name, der eigene, ist eine sprachliche Verkehrsform der anderen. Der Name identifiziert. Der Name stellt Identitätsverhältnisse her. Und diese Verhältnisse setzten das Individuum und die Identität über die Zeit in ein Verhältnis. Man wächst in seinen Namen hinein, wächst mit ihm zusammen. Man kommt bei seinem Namen an - oder eben nicht.

Michael Endlicher wählt Zeitschnitte durch ein Leben, festgehalten in Momenten der Fotografie. Jedes Foto ein Selbst im Portrait. Jedes Portrait versehen mit einem Namen. Jeder Name ein Deutungsmuster, ein Lebensentwurf, eine Lebensgeschichte, ein Männliches. Mit dem Männlichen wird angespielt auf einen Begriff, mit dem Eva Meyer in der Autobiographie der Schrift über das Subjekt Frau als auch über die Prädikation weiblich hinauszugehen sucht, nämlich der Name Weibliches, den sie den Logiken der Repräsentation hinzufügt. Hier also: Männliches, benannt im Ringen um Subjektpositionierungen, aufgedröselt in die Anrufungen der Namen auf den sich wandelnden Gesichtern des einen. Die Differenz des Geschlechts markiert sich in der Variation der Namen. Nicht alle gewählten Namen sind eindeutig männlich, möglicherweise haben sich über das männliche Gesicht auch weibliche Vornamen gelegt. Der Name macht die Geschlechtsidentität der Person un-eindeutig. Die vielen Namen stehen für die vielen Identitäten und ihre Möglichkeiten, jeder Name eine Assoziation, mindestens. Jeder Eigenname eine Fülle möglicher Assoziationen. In ihrem Nachdenken über die Autobiographie versuchte Eva Meyer eine Verschiebung herbeizuführen, von der "Forderung nach Authentizität der Wahrheit des Subjekts zu der des Schreibens" selbst. Die selfportraits from A to Z im Auge könnte dies eine Verschiebung von der Wahrheit des Subjekts zu der des Portraitierens und Schreibens hin sein.

Der Name ist ein Gegebenes, kein selbst Gewähltes. Der gegebene Name taucht in diesen "selfportraits" nicht auf. Es sind lauter 4-Buchstaben-Wörter, die hier konzeptuell als Namen gewählt wurden. Von Abel bis Zack werden wir durch das Alphabet navigiert. So genannte "Four-Letter-Words" haben in der anglophonen Welt einen höchst speziellen und tabuisiert prekären Status. Four-Letter-Words sind profan, sind Slang, bezeichnen Ausscheidungsfunktionen, sexuelle Aktivität oder die Genitalien. Ein ferner Abklang davon ist das im Deutschen gebräuchliche "Setz dich auf deine vier Buchstaben." Status, Erziehung, gutes Benehmen zeigen sich in Verwendung oder Vermeidung dieser Worte. Auch hier also die Überschreitung und das Tabu. Das Unaussprechliche macht den Namen zum Dämonischen. Der Nom-du-Pere mit seinen psychoanalysierbaren Symptomen als Vier-Buchstaben-Wort des ausstellenden und überschreibenden Augenbalken. Davor können die Augen nicht verschlossen werden. "Im Bild manifestiert sich mit Sicherheit immer ein Blickhaftes.", schreibt Jacques Lacan. Und was bedeutet es, wenn der Blick über das Bild hinaus gehen kann, indem er das Bild durch-schaut und auf das Dahinter des Bildes gelangt, an die Stelle, an der der Name eingeschrieben wurde? Endlicher stanzte die Namen aus. Er ging über den Akt des Überschreibens oder Übermalens weit hinaus, indem die gewählten Bezeichnungen eine das Bild durchstoßende Wunde, ein gestanztes Mal hinterlassen. "Wenn nun ein menschliches Subjekt ein Bild malen möchte, also dieses Etwas ins Werk setzt, in dessen Mittelpunkt der Blick steht, worum geht es dann?", fragt Lacan. Geht es um das Erschauen der Vielen in Einem? Geht es um die Anderen des Ichs, die sich in den betrachtenden Augen erblicken?
Der Name ist ein öffentlicher Aggregatzustand mit persönlicher Tiefenwirkung und umgekehrt. Also der Name ist ein persönlicher Aggregatzustand mit öffentlicher Tiefenwirkung. "Mit jedem Namen werden Personen assoziiert, denen man begegnet ist. Mit Namen verbinden sich aufgrund solcher Begegnungen viele positive und negative Eindrücke, Gefühle und Stimmungen... Sehr Persönliches muss offengelegt, diffus Empfundenes muss präzisiert, zunächst Unbewusstes muss bewusst gemacht werden. Alles das ist keine einfache Sache... Der Historiker kann auf dieser Ebene der Namensgeschichte nicht viel weiterhelfen. Sein Beitrag muß sich hier darauf beschränken, aus einer Geschichte der Namengebung bewusst zu machen, dass mit Namen ein essentielles Thema persönlicher Identität angesprochen ist.", mit diesen Worten beschließt der Historiker Michael Mitterauer seine Untersuchung zur Namengebung in der europäischen Geschichte. Hinter jedem Namen assoziieren sich also andere, weitere, mit diesem Namen. Die Vielheit endet nicht bei dem ins Bild Gesetzten, die Vielheit nimmt beim Durch-Schauen der 26 ausgestanzten Namen viele weitere Wendungen an. Namentlich.

Jeder Augenblick, aufgenommen, einem Archiv archivierter lebensgeschichtlicher Vergangenheiten entnommen, hat einen Namen bekommen. Assoziiert sich diesem. Und stellt neue Augenblicke her. Enzyklopädisch, von A bis Z. Von Anfang bis Ende. Von Alpha bis Omega, wie wir das Ganze zu fassen suchen. Aber es bleibt auch beim Einzelnen, bleibt bei sich, trotz der alphabetischen Serie von Abel bis Zack. Jeder Moment ist ein Name. "In der Malerei ebenso wie in der Schrift versuche ich einzig in dem Augenblick zu sehen, in dem ich sehe - und nicht zu sehen durch die Erinnerung, etwas in einem vergangenen Augenblick gesehen zu haben. Der Augenblick ist er selbst. Der Augenblick ist von einer drohenden Unmittelbarkeit, die mir den Atem raubt. In der gleichen Zeit, in der ich ihn lebe, werfe ich mich mit seinem Vorbeikommen einem anderen Augenblick entgegen.", schreibt Clarice Lispector in Agua Viva. Jeder Augenblick in den selfportraits from A to Z ist ein einmal gelebter. Nun ist er vielen anderen Augenblicken entgegengeworfen, identifiziert durch den Namen, assoziiert durch die Blicke der anderen, die beides schauen: den Portraitierten mit seinem Namen. Und die ganze Welt, seinen Kosmos, der in all diesen Namen und ihren (un)gewissen Ambivalenzen steckt. Diese Selbstportraits schaffen ein Universum der Benanntheit.

Elke Krasny, 2007. Kulturtheoretikerin, Kuratorin, Autorin; Professorin an der Akademie der Bildenden Künste, Wien. Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen zu Architektur, Kulturgeschichte und Gegenwartskunst, partizipatorische Kunstprojekte.
 

selfportraits, Digitaldruck, Öl/Leinwand, Buchstaben ausgestanzt, 50x40 cm | Hoffnung als Provokation, Kultum Graz, 2017