Performance with a Capital P, Magazin der Capital Bank Grawe Gruppe AG, 2/Dez. 05 ("Charity"), Weihnachtsgeschichte
Metropolis lost, Paradise regained
„Stadtluft macht frei“, sagten meine großen Schwestern wissend. „Aber Landluft stark“, brüllte mein Bruder und gebärdete sich wie ein gereizter Affe. Dann quetschte er, wie so oft, meinen Arm - warum meinen? -, um sie von seiner Kraft zu überzeugen. Ich wusste auch nicht, was meine Schwestern meinten, ich fühlte mich weder noch. Und wir wohnten dazwischen: nicht mehr am Land, noch nicht in der Stadt, im Niemandsland oder in der Möchtegernstadt, je nachdem.
Doch einmal kam ich in die große Stadt, ich erinnere mich nicht mehr, was oder wer mich hinbrachte. Aber ich weiß noch genau, wie aufgeregt ich war. Mir schien, als beobachteten mich die hohen Häuser, als rieben sie sich kokett aneinander, als blähten sie sich förmlich auf, um mir schöne Augen zu machen. Merkwürdig, dachte ich, so eine Riesenstadt muss doch voll von Menschen sein, die ihren wichtigen und unwichtigen Geschäften nachgehen, oder besser gesagt, nachlaufen. Aber so war es nicht. Ich blickte die Alleen entlang, bis ans andere Ende der Stadt, wo die Häuser wieder einzeln standen. Doch soweit ich sah, war alles menschenleer, hin und wieder nur huschte ein Schatten in einen Hauseingang, verschwand ein Kopf hinter einem Fenster. Einmal glaubte ich leise Stimmen zu hören, die ein trauriges Lied sangen. „Das bildest du dir ein. Hier ist niemand“, schärfte ich mir ein. Auch als ich in die verwinkelten Gassen hineinlief, wo meine Schritte unheimlich auf den Pflastersteinen hallten, hatte ich das Gefühl, jemand würde mit mir Katz und Maus spielen, mir jedes Mal, wenn ich um die nächste Ecke rannte, wieder nur eine leergefegte Gasse vorführen. Nie kam jemand des Weges - kein Mann, keine Frau, keine Kinder. Keine Hunde, keine Katzen, keine Tauben, nur die Häuser starrten mich mit ihren großen Türen und Fenstern an. Ich fühlte mich mutterseelenallein. Wie so oft. Und dennoch beschlich mich im gleichen Augenblick ein zaghaftes Gefühl von Geborgenheit. Die Stadt mochte mich, das konnte ich spüren, und ich mochte sie.
Wochen später kam ich wieder. Diesmal musste ich meine Schwestern beim Einkaufen begleiten. Am Stadtrand erstanden sie bunten Zwirn, diverses Garn und die neuesten Fingerhüte. Auf diese waren sie wie versessen. Sie fochten mit den fahrenden Händlern geheimnisvolle Händel aus, um immer die allerneuesten für ihre Sammlung zu bekommen. Ich aber wollte hinein in die Stadt. „Bin bald zurück“, rief ich auf einmal, und ehe sie widersprechen konnten, war ich eingetaucht ins Häusermeer. Obwohl ich die Straßen meines ersten Besuchs nicht mehr fand und durch mir unbekannte Viertel ging, hatte ich kein bisschen Angst. Ich war sofort zu Hause. Und die Stadt hatte mich auch gleich wiedererkannt, sie zeigte sich von ihrer besten Seite. Die dunklen Häuserfronten wiegten sich sacht im Wind, die schmalen Gehsteige warfen witzige Blasen auf, die ich durch ansatzlose Sprünge zu erwischen versuchte. Die gelbe Sperrlinie in der Straßenmitte begann sich zu schlängeln, gab meinen Herzschlag wie im Krankenhaus wieder und wanderte schließlich zu mir herüber, um ein Herz auf dem Asphalt zu formen. Ich dankte mit einem Knicks. Diesmal überraschte mich auch die Abwesenheit jeglicher Lebewesen nicht. Ich fand es vollkommen normal, allein hier zu sein, ja ich fand es geradezu zwingend erforderlich. Die Stadt bin ich, schoss es mir durch den Kopf, alles andere zählt nicht mehr.
Obwohl sich bereits der Winter ankündigte, hatte ich Anorak, Pullunder und Ohrenschützer ausgezogen und ging im Hemd. Die Stadt wärmte mich ganz wunderbar. Ich ließ mich treiben und meine Gedanken schweifen. Irgendwann musste ich mich wohl wieder dem Stadtrand genähert haben, denn ich begann zu frösteln und mir wurde klar: Bald würde ich wieder rausmüssen, raus aus meiner Stadt, zurück zu meinen Leuten. Das war schwer zu verkraften. Vor allem im Winter. Dann durchzuckte mich aus heiterem Himmel gellendes Geschrei, und als ich endlich begriff, was da geschrien wurde, war es zu spät: „Da ist sie ja, die kleine Kröte!“
Bei meinem dritten Besuch - und wie ich damals noch nicht wissen konnte auch meinem letzten - war alles anders. Meine Schwestern und ich waren im Hügelland gewesen und auf dem Rückweg in unser Zwischenreich. Wir hatten Affenbrot, Eicheln und Reisig von Maronibäumen gesammelt. Verbrannte man es, verbreitete sich der Geruch von gerösteten Maronis im ganzen Zimmer. Wir brauchten also gar keine auf die Herdplatte legen und sparten Geld, das man wieder für neue Fingerhüte ausgeben konnte, während ich mit knurrendem Magen leer ausging. Doch mein Ärger verflog rasch, als im Süden vor uns die Stadt auftauchte. Je näher wir kamen, desto heiterer wurde ich, bis ich mich bald wie ein kleines Kind auf das unbeschreibliche Stadtgefühl freute, das sich gleich einstellen würde. Doch nichts geschah. Im Gegenteil. Die Stadt war nicht wiederzuerkennen: Schwall um Schwall gesichtsloser Menschen wogte durch die nasskalten Straßen, Autos dröhnten, die schlechte Luft trieb mir Tränen in die Augen und die Häuser schienen tot. Totenstarr. Ich war fassungslos. Vor Enttäuschung und Kälte begann ich zu weinen und am ganzen Körper zu zittern. „Was ist nur mit dir geschehen“, stammelte ich. Meine Schwestern zogen nur die Augenbrauen hoch und tippten sich an die Stirn. „Was ist denn, Schätzchen, hat die Stadt vielleicht heute keine Zeit für dich?“, meinte die Älteste spitz. „Oder hast du heute gar etwas falsch gemacht?“, höhnte die Mittlere. „Gib`s auf, es ist vorbei“, blaffte derb die Jüngste. Oh nein. Ich war nicht schuld. Auch die Stadt nicht. Und aufgeben: niemals! Sie waren es, sie machten alles kaputt! Aber das konnten die drei Gänse natürlich nicht verstehen.
Anfang Dezember lag ich dann mit Angina und Angelina, meiner Zigeunerpuppe im Bett, und meine Stadt war meilenweit weg. Dabei hätte sie mich natürlich sofort gesund gemacht, da gab es nicht den geringsten Zweifel. Nur einmal allein über den heißen Asphalt laufen und die salzige Brise des Häusermeers inhalieren. - „Ich muss zu den Hochhäusern, nur ganz kurz“, flehte ich, aber meine Schwestern füllten mich mit ekelhaften Hustensäften ab und meinten nur, ich spräche im Delirium. Und mit meinem Bruder war auch wieder mal nicht zu rechnen. Da er nicht mehr Bandenführer sein durfte - er wäre einem unbekannten Schmächtling im Messerpecken unterlegen und hätte daher seine Position zurücklegen müssen, erklärte er umständlich -, war ich für ihn erst recht Luft, kranke Luft zudem, der man umso dringlicher aus dem Weg zu gehen hatte. Trotzdem war ich nicht allein, in meinen Gedanken sah ich die Stadt in der Wintersonne funkeln. In der eiskalten Morgendämmerung erwachte sie Grau in Grau, dann, mit den ersten Strahlen, ergelbte sie schüchtern, bekam langsam orange Züge, errötete zusehends um schließlich gegen Mittag alle Farben zu bekennen. „Wir werden uns bald wiedersehen, ich weiß es. Wir werden uns bald wiedersehen, ich weiß es!“ Fast zornig wiederholte ich das Mantra immer und immer wieder, bis meine Schwestern mehr genervt als verstört miteinander zu flüstern begannen: "... das hat sie jetzt davon ... immer naseweis, diese störrische Pute ... geschieht ihr recht ... soll mal sehen, wie sie da wieder raus kommt". Aber ich wollte da gar nicht wieder rauskommen.
Weihnachten kam. Einfach so. Der erste Schnee war längst wieder geschmolzen, es hatte so um die Null oder ein wenig darüber, es regnete und ich fror wie eine Schneiderin, viel ärger jedenfalls als bei Schnee und minus 10 oder darunter. Am Vierundzwanzigsten war ich so recht und schlecht genesen, aber ich fühlte mich dennoch entsetzlich. Wir mussten Linsen zählen und Erdäpfel schälen, wie jedes Jahr. Beim Krippenspiel war ich diesmal der Stern, doch mein Bruder brach mir mit einer ungestümen Bewegung einen Zacken aus meiner gelben Krone. Hätte mich nicht weiter getroffen, wenn er nicht auch noch vor lauter Lachen die Krippe mit dem Kleinen umgestoßen hätte. Passenderweise spielte er den Esel.
Bei der Bescherung kam dann etwas Stimmung bei den Schwestern auf, als sie ihre Spinnräder und Häkelsets auspackten. Der Esel bekam Boxhandschuhe. Die schlimmen Gedanken, die mir dabei kamen, versuchte ich schnell zu vergessen. Ich suchte ein Geschenk für mich und nach einigem angstvollen Stöbern - würde ich diesmal, wie ständig angekündigt, tatsächlich nichts bekommen? - fand ich erleichtert eine schlichte schlanke Schachtel. Ich packte sie aus und es waren sehr schöne Bleistifte drin, sogar ein paar bunte waren dabei. Seltsam ergriffen nahm ich einen zwischen die Finger, und ein geradezu himmlisches Gefühl beschlich mich. Es war ganz genau dasselbe, wie unlängst, es war mein Stadtgefühl.
Eines Tages begann ich sie zu zeichnen. Die große Stadt. Ich hörte mein Herz klopfen und meine Hände zitterten. Doch als ich die ersten Striche gemacht hatte, wurde ich ruhiger und bald glitt der Stift wie von selbst über das Blatt. Zuerst entwarf ich alle Straßen und Wege, dann Flüsse, später die Häuser, große und noch größere und wirklich große. Meine Stadt entstand genauso menschenleer, wie ich sie erlebt hatte. Oder war da nicht doch jemand? Fuhren da nicht doch Autos? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass die papierene Stadt genauso schön war, wie die steinerne. Sie war so gut gelungen, dass ich nicht wusste, für welche ich mich entscheiden würde. Also begann ich sie nochmals zu zeichnen. Diesmal würde sie mir noch besser gelingen. Und irgendwann würde sie so vollkommen sein, dass ich die andere vergessen konnte.
Eine Stadtstreicherin vermisst die Welt
Über die Malerin Manuela Hillebrand
Die Faszination, die künstlerische Menschen wie Manuela Hillebrand auf uns ausüben, liegt in der kompromisslosen Eigenständigkeit und Konsequenz, mit der sie ihre eigene Kunst- und Weltsicht entwickeln und vorantreiben. Wir erkennen (oder erahnen) in ihrem Tun ambitionierte Versuche, die Welt zu vermessen, dabei neu zu sehen und vielleicht neu zu ordnen. Das künstlerische Streben spiegelt jene Suche nach dem Ursprünglichen wider, die nicht nur die Kunstgeschichte des letzten Jahrhunderts - Stichwort: Art brut - maßgeblich mitbestimmt hat, sondern in unserer Kommerz-hörigen und Hightech-besessenen Zeit für viele mit dem drängenden Bedürfnis nach dem Anderen einhergeht.
Wir erleben die Kunstwerke von Außenseitern als kleine Schätze von Schönheit und Gestaltungskraft, genießen den Reichtum an Farben, Formen, grafischen Ideen; wir staunen über spontane, absichtslose Werke, die praktisch frei von Nachahmung oder Beeinflussung als Boten einer überbordenden Kreativität auftreten, einer Kreativität, die sich offensichtlich trotz widriger Lebensumstände nicht beschränken lässt. Wir erhalten ungeschönte, unzensurierte Einblicke in fremde Weltbilder und Denkmodelle, die uns zumindest kurzfristig frischen Wind in die Köpfe blasen. Direkt und unverblümt werden unterschiedliche emotionale Ebenen in uns angesprochen, was uns glauben macht, unsere eigene Fantasie würde erweitert, unsere Vorstellungskraft größer. Für die meisten von uns erweist sich das wohl als Illusion, zu sehr sind wir den genormten Sachzwangschablonen verhaftet. Dennoch, was bleibt, ist die berückende Hoffnung, in der Auseinandersetzung mit künstlerischen Bestandsaufnahmen der Welt, in diesem Fall mit den wundersamen Stadtbildern von Manuela Hillebrand, bislang ungesehene Hervorbringungen der eigenen Fantasie zu stimulieren. Dafür sind wir dankbar.
Endlicher für argeCC/Albert Handler, Text, 2005 (Manuela Hillebrand ist Mitglied der Malwerkstatt Graz/Jugend am Werk. Ihre "beseelten Städtebilder" waren Inspiration für obige Kurzgeschichte.)