Michael Endlicher: Linguistic Turns




Trotz der zu seiner Zeit absehbar werdenden Umbrüche durch Fotografie, Radio, Film - und der Begeisterung für diese neuen Medien, für die Erreichbarkeit der Massen - ist sich etwa Wladimir Majakowski sicher gewesen, dass selbst für kleine, speziell interessierte Adressatenkreise bestimmte Bücher weiterhin Wirkungen entfalten, sofern sie sich "nicht an Verbraucher, sondern an Erzeuger" wenden, also tatsächlich etwas auslösen. Für Michael Endlicher wurde meine Studie Wörter und Zahlen. Das Alphabet als Code (2000) eine solche Anregung zum Weiterdenken und Weiterarbeiten. Was bei mir als introvertiertes Erforschen von Zeichenwelten und Codierungssystemen, von in ihre Elementarteilchen aufgelöster Schrift, von sich rechnerisch ergebenden Bedeutungsbildungen begonnen hat, wird bei ihm zur eigenständigen Transformation, zu Bildern. Damit erweitern sich Räume.

Das in diesen Breiten geläufige Alphabet als System zu begreifen, welches jedem Buchstaben seinen Stellenwert als Zahl zuweist (a=1, b=2, c=3 usw.), wodurch für Wörter, für Wortfolgen Summen-Codes berechenbar werden, befreit vom lexikalischen Zwang, Anfangsbuchstaben zum Ordnungsmodell zu machen. Alle Buchstaben einer Zeichengruppe werden in nachvollziehbarer Weise berücksichtigt. Unplanbare Querbezüge erzeugen Impulse. Auftauchende Assoziationen befragen, noch bevor grammatische Regeln einengend wirken, die Mechanismen des Verstehens, vorgeprägte Vorstellungen von Zugehörigkeit, von nicht Zusammenpassendem. So entsprechen sich etwa nach diesem Verfahren fundamentale Eigenschaften wie wahr (23+1+8+18=50) und heilig (8+5+9+12+9+7=50); der rechnerisch belegbare Verweis auf Bilder (50) verstärkt noch diesen geheimnisvollen Bezug. Wörter mit dem gleichen Code, wie Krieg (50), Lüge (50), das kollektive "Wir" (50), Jubel (50), Flamme (50), Mord (50), Exil (50) lassen die angedeutete Harmonie jedoch explodieren. Solche "Zufälle" (die wegen bekannter Ursachen keine "wirklichen" Zufälle sind) erzeugt das Alphabet selbst. Zahlen werden zum Sprechen gebracht.

Abgesehen von weit ausgreifenden Verbindungen mit der Kabbala, mit jüdischen, persischen, arabischen, griechischen, römischen, mittelalterlichen Codierungstraditionen, zu Methoden der Konkreten Poesie, zu einem Computerdenken, machen sich anhand dieser Thematik auch gegenwärtig verzweigte, unter keinerlei Esoterikverdacht stehende Parallelintentionen bemerkbar, die in ihrer belebenden Heterogenität erfreulich sind. So hat etwa Helmut Eisendle (1939-2003) über seine berechneten Gedichte ein schon lange verfolgtes Interesse deklariert. Stephan Krass verwendet in seinen Bildern und Texten diesen Zugang (Lichtbesen aus Blei. Gewichtete Gedichte, Berlin 2004). Barbara Frischmuth hat in den codierten Worttabellen "ideales Rechenmaterial" für einen geplanten Roman gefunden. Für Michael Endlicher ist das Berechnen eine Möglichkeit, die Dimensionen von Zeichenhaftigkeit zu ergründen und zu visualisieren.

Wenn er in seinen "Votivbildern" die unschwer als Jahreszahl erkennbare Zäsur 1492 hervorhebt und ihr auf den Kopf gestellt 1491 gegenübersetzt, als Amerika noch nicht entdeckt, also in westliches Denken einbezogen worden war, wird Plakatives durch ungewohnte Assoziationsfelder konterkariert. Vermeintliche Fixpunkte werden fragwürdig. Manches hätte sich eben ganz anders entwickeln können, etwa wenn die großen chinesischen Expeditionsflotten unter dem Kommando von Zheng He, übrigens ein Moslem, wegen der schließlich verordneten Abschließungspolitik nicht wirkungslos geblieben wären, obwohl sie schon 1421 weite Teile der Welt, einschließlich der amerikanischen Küsten befahren haben sollen.

Die Entscheidungsbilder und die Moralspiegel, ostentativ in kleinen Formaten, deuten an, dass Ja-Nein-Optionen in die Irre führen können. Mit Ich vergebe/Ich vergelte oder Ich suche/Ich finde werden ausdrücklich solche existentiellen Grundsituationen angesprochen. Ein Text Kandinskys mit dem schlichten Titel und präzisiert diesen Sachverhalt. "Während das 19. Jahrhundert vom Entweder-Oder regiert wurde", heißt es dort, "sollte das 20. Jahrhundert der Arbeit am und gelten. Dort: Trennung, Spezialisierung, das Bemühen um Eindeutigkeit, Berechenbarkeit der Welt - hier: Nebeneinander, Vielheit, Ungewissheit, die Frage nach dem Zusammenhang, Zusammenhalt, das Experiment des Austausches, des eingeschlossenen Dritten, Synthese, Ambivalenz." Wegen der Uneingelöstheit solcher Ansprüche bleiben sie im 21. Jahrhundert durchaus relevant. Auch das Verwenden von Spiegeln kann weit über den heutigen Umgang mit ihnen beim gedankenlosen Schminken, Kämmen, Rasieren hinausweisen, wurden doch die kleinen Handspiegel früher Pilger, die damit die Kraft von Reliquien auffangen wollten, zur Energieübertragung eingesetzt; zugleich waren sie eine Vorform von Fotografie.

In seinen Kritikbildern operiert Michael Endlicher mit der Rückführung schriftlich festgehaltener Kunstkommentare ins Bild. Auch damit greift er den in der klassischen Moderne forcierten Tabubruch auf (Picasso, Braque, die Futuristen, Konstruktivisten, Dada, Duchamp), mit dem der behauptete Gegensatz von Wissenschaft und Kunst, hier Texte und Formeln, dort Bilder, Skulpturen, Bauten aufgehoben, überwunden, negiert werden sollte. Schriftinstallationen von Jenny Holzer oder Lawrence Weiner (etwa am Wiener Flakturm im Esterhazy-Park) oder die Codierungsbilder von Brigitte Kowanz demonstrieren die Präsenz und Weiterentwicklung solcher künstlerischer Verfahren. Michael Endlicher sucht in solchem Umfeld eigene Wege. Etwa mit einem zum Bild verwandelten „Werbetext“ werden in ambivalenter Weise Bildliebhaber und Bildzerstörer angesprochen, als ausdrücklicher Hinweis auf geschäftige Nüchternheit. Niemandem wird etwas eingeredet. Hier wird gearbeitet, hier geht es um Arbeit, ist die Botschaft. Materialität ist wichtig, Handwerkliches, Farbe; die Buchstaben sind gemalt, gestanzt, geprägt, geätzt. Jeder einzelne von ihnen wird ernst genommen.

In den Dramenblechen schließlich werden die eingangs angesprochenen alphanumerischen Codes zum zentralen Vorgang. Ungewöhnliche, aber nachweisbare Relationen - als Metapher für Wissenschaft, für Theorie, für Zusammenhänge - werden in einprägsamer Weise, auf Blechschildern, die wie Nummerntafeln von Autos aussehen, zu Bildern konzentriert. Ein Suchen, Finden, Begreifen bildet sich ab. Die Dramatik ist gewollt; Subtiles ergibt sich erst über Reflexionen. Essentielle Bezüge wie Hand - Bild - Code - 27 suggerieren eine zivilisationsgeschichtliche Programmierung, so wie die Gleichung Gott - Mensch - Krise - 62 oder Moral - Anarchie - Glück - 59. Die auffällige Gleichwertigkeit von Linguistik - Mitternacht - Schuldgefühl - 131 findet sich im Katalog- und Ausstellungstitel Linguistic Turns, wieder. Damit hervorgehobene Tendenzwenden lassen keine eindeutigen Perspektiven erkennen, sie sind bloß Ausdruck dafür, dass zur Analyse, Beurteilung, Darstellung von Realitäten sich erneuernde, verfeinerte, Mehrdeutigkeit aufgreifende Sichtweisen erforderlich sind. Der Schrift, der Sprache, dem Bild wird misstraut, auch der propagierten Devise "Alles ist Text", die Welt sei "lesbar". Möglichkeiten sind auf ausbaufähige Konstellationen angewiesen: Text - Teufel - Poesie - 69. Poesie offenbart sich in einem solchen Kontext als Chance. Als bloßes Wort aber hat Poesie (69) den selben Codewert wie Text (69), wie Prosa (69), wie Formel (69).

Es geht also um Präzision der Wahrnehmung, um rationales Erfassen von Verborgenem, das für ein Weiterdenken offen bleibt. Generell brauchbar, für die künftige Produktion und die Beschäftigung mit ihr, erscheinen aus diversen Linguistic Turns (215) ableitbare Richtungsangaben, wie Ordnungsbedürfnis (215) und Bedeutungsreichtum (215). Die Verbindung von Raumbezogenheit (169), also Spacial Turns (170) und Zeichensystem (171) wiederum verweist in aufsteigender Reihe auf künstlerisch so wichtige Begriffe wie Sprachlosigkeit (172) und Wechselbeziehung (172).

Quellen:
Christian Reder: Wörter und Zahlen. Das Alphabet als Code. Wien-New York 2000.
Wladimir Majakowski: Werke, herausgegeben von Leonhard Kossuth, Frankfurt am Main 1980, Band V.2., Publizistik. Aufsätze und Reden, S. 328, 299.
Gavin Menzies: 1421. Als China die Welt entdeckte (London 2002), München 2003.
Wassily Kandinsky: und (1927). In: Kandinsky: Essays über Kunst und Künstler, Bern 1973, S. 97ff

Christian Reder, 2005. Autor, Essayist und Professor für Kunst- und Wissenstransfer an der Universität für angewandte Kunst Wien.