Mit Zeichen Zeichen setzen

Der bildende Künstler Michael Endlicher ist ein Spieler inmitten des Universums der Zeichen und ihren formalen Variationen, inhaltlichen Interpretationen und neugeschaffenen Kompositionen. Sein künstlerisches Schaffen steht ganz im Zeichen der Zeichen.

Zeichen haben bei ihm leichtes Spiel und zugleich schwerwiegende Bedeutung. Er nähert sich ihnen auf leisen Sohlen, ein anderes Mal mit großer Geste. Er bewegt sich virtuos zwischen ihren Arten, Aspekten und Funktionen, überschreitet Grenzen und durchmisst die gesamte Klaviatur nach sämtlichen Ton- und Spielarten vom Einzelzeichen bis hin zur Dimension gesellschaftlicher Stereotype.

Wir alle leben in einer Welt von Zeichen. Zeichen prägen unser Leben und Denken. Sie sind uns im Umgang so omnipräsent und selbstverständlich, dass wir ihnen kaum direkte Beachtung schenken. Ganz anders Michael Endlicher. In seinem vielschichtigen künstlerischen Kosmos stehen die Zeichen im Mittelpunkt, er führt sie uns vor Augen und „zeichnet“ ein Bild ihrer Varietäten und Wirkmächtigkeit.

Um Endlichers Wanderungen und Wandlungen im Reich der Zeichen einordnen und nachvollziehen zu können, bedarf es eines rudimentären Crash-Kurses in die Wissenschaft vom Zeichen, die Semiotik.

  1. Grundlegendes Merkmal eines Zeichens ist seine „Stellvertreter-Funktion“. Von einem Zeichen ist demnach dann zu sprechen, wenn „etwas“ für „etwas anderes“ steht. Folgerichtig macht ein Zeichen etwas präsent, ohne selbst dieses Etwas zu sein.
    Die Zeichenform B-a-u-m ist nicht der Baum selbst, macht diesen aber gedanklich verfügbar, ohne dass er physisch anwesend ist. Eine außerordentliche Funktion von Zeichen, mithilfe derer wir die Welt begreifen können.
  2. In einem phonetischen Alphabet ist das einfachste Zeichen ein Buchstabe, der einen bestimmten Laut kodifiziert. Der Zusammenhang von grafischer Buchstabenform und dessen zugeteiltem Laut ist dabei willkürlich und folgt allein der Konvention. Theoretisch könnte jede Form auch mit einem anderen Laut assoziiert werden.
  3. Ein Wort ist wiederum ein komplexes Zeichen aus einzelnen Buchstaben. Sprachwissenschaftlich spricht man von einem „symbolischen Zeichen“. Seine Zeichenform symbolisiert einen bestimmten Zeicheninhalt. Auch diese Verbindung ist willkürlich und beruht auf Konvention. Die Lautfolge T-i-s-c-h weist keinerlei bildhaften oder wesenhaften Bezug zur Gestalt des Möbels oder seiner Verwendung auf.
  4. Zeichenform (Signifikant) und dazugehöriger Zeicheninhalt (Signifikat) werden gelernt. Sie sind nur vor dem Hintergrund eines Zeichenbenutzers denkbar, der die Relation zwischen ihnen herstellt. Konkrete, weiterführende Assoziationen sind somit das Ergebnis der Interpretation des Zeichenbenutzers.

Den Umgang mit diesen grundlegenden Funktionsweisen und Verbindungen erlernen wir von Kindesbeinen an und beherrschen ihn schließlich nicht nur, sondern haben ihn vielmehr so ganz und gar verinnerlicht, dass er zur Matrix unseres Denkens geworden ist.
In der alltäglich operativen Anwendung zur Kommunikation und der Verfügung über die Welt mittels Zeichen erscheint es uns, als wäre die funktionale Verbindung zwischen Signifikanten und Signifikat eine — auch in seiner ästhetischen Form — natürliche und nicht konstruierte oder noch weniger willkürliche Konventionierung. Das führt stillschweigend dazu, dass wir geradezu automatisch jedes Zeichen interpretieren und seinen Inhalt zu entziffern suchen. Wir erwarten, dass jedes Zeichen für „etwas anderes“ steht.

Diesbezüglich erweitert noch eine zusätzliche semiotische Besonderheit den Raum für Michael Endlichers scharfsinnig-subtiles Spiel mit Erwartungen, willkürlichen Konventionen und Formen sowie der Dekonstruktion und Neuschaffung von Zeichen und Zeicheninhalten: Das Kunstwerk. Dieses ist nämlich in seiner Funktionalität ein spezielles Zeichen, das sich per se bereits dem gewohnten Umgang entzieht. Genauer: Signifikant und Signifikat sind weitgehend deckungsident. Das Kunstwerk bezeichnet in konstituierendem Maße sich selbst. Es verweist auf sich selbst. Es ist sich selbst Inhalt und steht nicht bloß für etwas anderes. Es befreit sich aus seiner Stellvertreter-Funktion, um sich andere kommunikative Ebenen und andere Bedeutungsdimensionen zu erschließen und diese zugänglich zu machen.
Das macht das Zeichen als Sujet zu einem nahezu perfide-lustvollen und insbesondere tiefsinnig-künstlerischen Unterfangen, das zwischen semiotischen Welten, Funktionen und Konventionen oszilliert.
In seiner Arbeit stellt Michael Endlicher unseren Umgang mit Zeichen konsequent in Frage, während er sich selbst derselben Zeichen bedient.
Er setzt mit Zeichen Zeichen. Künstlerische Zeichen.

Die kleinste Einheit dieser künstlerischen Zeichen bilden seine Buchstabenbilder – einzelne Buchstaben einer festgelegten Schriftart, die er in Mischtechnik auf Leinwände im Format 50x40 Zentimeter malerisch darstellt. Auf einen ersten, oberflächlichen Blick scheinen diese eben das zu sein, was ihr Titel suggeriert. Man muss sich ihnen stellen, um sich ihre Tiefenschichten zu erschließen. Erst dann durchdringt man deren vordergründige Wiedererkennung als Buchstabe und erkennt diesen als selbstständiges, graphisch-ästhetisches Gebilde. Man begreift seine Form als gestaltendes Element eines Kunstwerks, so wie es jedes andere abstrakte Bildelement auch tut, und erfasst das Zeichen als künstlerisches Zeichen. Ausschlaggebend für diesen „Wahrnehmungs-Sprung“ ist nicht zuletzt ihre malerische Umsetzung, die Endlicher ganz bewusst einsetzt und dadurch jedes einzelne Bild – gerade auch dann, wenn es sich um dieselbe Buchstabenform handelt – zu einem individuellen, autonomen Werk macht.

Es ist dieses Wechselspiel mit Konventionen und deren Brüchen, das Michael Endlichers Werke in Vexierbilder verwandelt, die kontinuierlich zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen changieren und immer komplexere Formen annehmen. Denn freilich lassen sich seine Buchstabenbilder wiederum zu größeren Einheiten, Wörtern und Sätzen zusammenfügen und deren „mehrdeutige Lesbarkeit“ damit auf eine höhere Ebene transponieren. 

Das „Colour Field Painting 1“ ist neben vielen anderen Wortbildern* ein repräsentatives Beispiel für diese nächste „Ausbaustufe“ seiner Buchstabenbilder – bestehend aus den Buchstabenfolgen BLUE/PINK/GREY/GOLD, die, übereinandergesetzt, ein Werk bilden. Auf konventionell-funktionaler Ebene stehen die einzelnen Begriffe symbolisch „für etwas anderes“. Für Farbtöne, die allerdings weitab von ihren Zeichen nur in unserer Vorstellung existieren, während die „Wörter“ als formale Zusammenstellung individueller Zeichenbilder, als autonome Malereien und künstlerische Zeichen auf sich selbst verweisen.

Noch komplexer äußert sich Endlichers künstlerische Strategie in seinen Satzbildern*, für die er seine Buchstabenbilder zu aphoristischen, teils kryptisch anmutenden Aussagen, Fragen, anspielungsreichen Fragmenten sowie ganzen Texten verknüpft. Ein immer wiederkehrendes Element ist dabei die abstandslose Aneinanderreihung von Buchstabenbildern ohne Rücksicht auf korrekte Silbentrennung, wodurch er gezielt die Lesbarkeit unterbricht und scheinbar neue, noch nicht konventionalisierte Zeichenfolgen und Wörter kreiert.
Darüber hinaus hintertreibt er die Lesbarkeit mit installativen Präsentationsvarianten, die mit gewohnten Formaten und Kontexten brechen, indem er Türme aus seinen Bildern baut, Kartenhäuser oder kreisförmig angeordnete Panoptiken, die zudem die physische Präsenz des Zeichenbenutzers miteinbeziehen.

Auf diese Weise nähert er sich schrittweise immer weiter dem Zeichen als Kunstwerk und gelangt auf dem Weg über seine numerologischen Dramenbleche, seine literarischen Litaneien oder Videoarbeiten – um stichpunktartig weitere Stationen zu nennen – zu seinen Signs. Bei ihnen rückt das malerische Element entschieden in den Vordergrund, wodurch sie sich immer mehr von ihren Ursprüngen lösen. Sie entwickeln sich zu neugeschaffenen, eigenständigen Zeichen, die sich kompositorisch aus einer Vielzahl von formalen Vorlagen – Buchstaben, Zahlen sowie orthographischen Markern – oder deren Bruchstücken zusammensetzen. Dabei erobern sie sich völlig neue Dimensionen, indem sie, geradezu beispielhaft, allein auf sich selbst verweisen und für nichts anderes als für ihr selbst geschaffenes Signifikat stehen. Sie entfalten ein Eigenleben, werden zu Lebewesen und zu Charakteren mit narrativen Hintergründen, die man scheinbar wiedererkennt und zu lesen vermag, die sich letztendlich aber dennoch eines habhaften Zugriffs zugunsten des Kunstwerks entziehen.

*Eine vom Autor zur einfacheren Differenzierung im Text eingeführte Terminologie. Der Künstler selbst spricht konsequenterweise durchgängig von „Buchstabenbildern“.

Daniel Zaman, bildender Künstler, Autor, Kurator

Buchstabenbilder ("Colour Field Painting 1"), 200 x 160 cm, 2019